Wieder in Stück neue Zeit!
Mit einem Jungfernflug nach Weimar, tollkühnen Männern und allzu irdischen Problemen begann heute vor 75 Jahren die Geschichte der Linienflüge in Deutschland
Weimar, am 5. Februar 1919, kurz vor 15 Uhr. Hunderte Augenpaare bohren sich In den tristen Winterhimmel. Immer auf der Suche nach zwei kleinen, sich schnell nähernden Punkten am Horizont. Irgendwo aus Richtung Apolda müßten sie jeden Moment auftauchen - sagen zumindest die Herren von der Flugwache. Am 5. Februar 1919, kurz vor 15 Uhr. Festtagsstimmung macht sich breit. Morgen wird sich in der Stadt die verfassungsgebende Nationalversammlung konstituieren - und weil das so ist, soll Weimar noch heute die Weihen der Lüfte erfahren. Vier tollkühne Männer in zwei fliegenden Kisten schicken sich an, das Provinzstädtchen mit dem Nabel der Welt zu verbinden. Der liegt aus treudeutscher Sicht in der Reichshauptstadt, heißt Flugplatz Berlin-Johannisthal, und erlebte erst zwei Stunden zuvor den Start unserer wackeren Mannen. Die haben Insgesamt 4000 Berliner Zeitungen an Bord. Druckfrisch und bestimmt für die verehrten Parlamentarier. Die Idee ist hausbacken und genial zugleich. Weil die Politiker an Ihrem selbstaulerlegten Verbannungsort keinesfalls auf Ihre Hauspostillen verzichten möchten, ergibt sich die einmalige Chance, eine regelmäßige Flugroute zu eröffnen.Die, so die Vision, könnte natürlich auch Post und Dokumente, ja selbst Passagiere befördern. Von Berlin nach Weimar, von Weimar nach Berlin. Und nicht nur am 5. Februar 1919.
Reichspost und -bahn allein scheinen dieser Aufgabe nicht gewachsen. Zwar pendelt täglich ein Parlamentssonderzug zwischen Berlin und
Weimar, doch der braucht mindestens vier Stunden für die einfache Strecke. Noch ärger ist es um die Briefbeförderung bestellt. Die dauert von Postamt zu Postamt bis zu vier Tage. Doch es gibt eine Alternative in diesem ersten Nachkriegswinter. Erfahrene Piloten stehen ebenso zur Verfügung wie ausgemusterte Militärmaschinen, und mit der Deutschen Luft-Reederei (DLR) existiert auch eine zivile Fluggesellschaft. Eine glücklichere Konstellation können sich die Weimarer Stadtgewaltlgen gar nicht erhoffen. Schon sehen sie das Ende eines Alptraums nahen, den sie selbst zumindest seit 1910 fleißig mitgenährt hatten. Damals gönnten sich die Goethe-Städter einen eigenen Luftschiff-Landeplatz - und setzten unverhofft mit 30 000 Mark Baukosten zur Bruchlandung an. Recht schnell hatte sich herausgestellt, daß die geplante Zeppelin-Route von Berlin nach Frankfurt am Main weder in Weimar noch anderswo in Thüringen einen Zwischenstopp einlegen würde. So schnell die Zeppelin-Euphorie verflog, ward die nächste geboren. Kein Jahr später, am 5. März 1911 , erlebt der "Webicht" genannte Flugplatz endlich seinen ersten großen Tag. Aus Gotha kommend, landet erstmals ein "Überland-Flieger" auf der planierten Wiese. Tausende strömen herbei, feiern zu zünftiger Marschmusik den Piloten als ihren Helden. Was sie alle zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen: Grund zum ausgiebigen Jubeln wird es am Webicht erst wieder im Februar 1919 geben. Bis dahin gehört der Himmel über Weimar fast ausschließlich den Engeln und den Spatzen. Weder die entstehende Flugschule noch publikumsträchtige Flugschauen können ihnen auch nur annähernd die Lufthoheit streitig machen.
Weimar, am 5. Februar 1919, kurz nach 15 Uhr. Hunderte Augenpaare bohren sich noch immer in den tristen Winterhimmel. Noch am selben Abend werden die aus Berlin herbeigesehnten Piloten in ihrem Bordbuch vermerken, in die falsche Richtung geflogen zu sein. Im Schneegestöber fällt die Orientierung schwer, trotz der niedrigen Flughöhe von 150 bis 200 Meter. Um halbwegs zurechtzukommen, folgen beide Maschinen dem vermeintlichen Schienenstrang von Berlin nach Leipzig. Wertvolle Zeit verstreicht, bis die Piloten ihren Irrtum bemerken. Vier Wochen später veröffentlicht die Deutsche Luft-Reederei eine erste, gewichtige Bilanz. Insgesamt 120 Flüge habe sie im Februar zwischen Berlin und Weimar unternommen, dabei 206,5 kg Post, 5559 kg Zeitungen und 19 Fluggäste befördert.
Derweil herrscht in "unseren beiden offenen Doppeldeckern das große Bibbern und Zittern. Nahezu schutzlos sind die vier Insassen den Elementen des eisigen Februars ausgeliefert. "Behost, umschnallt, umwickelt. gegürtet, daß man schließlich einem Paket, doch nur wenig einem Menschen gleicht", so beschreibt wenig später ein Journalist den Mummenschanz, mit dem sich Passagiere wie Piloten in jenen Tagen gegen den Frost zu schützen pflegten.
Und Weimar ist noch weit. Am 5. Februar 1919, gegen 15 Uhr. Hunderte Augenpaare halten noch immer aus, bohren sich in den tristen Winterhimmel. Umsonst! Fast unbemerkt haben sich die zwei Flugzeuge im Tiefflug und von der anderen Seite aus genähert - weil wegen einer verordneten Bannmeile die Stadt umflogen werden muß. So ist es erst das urplötzlich in der Luft liegende Propellergeräusch, das ihre Ankunft ankündigt. Unbändiger Jubel bricht los. Der erste planmäßige Linienflug in Deutschland ist beendet. Pünktlich und sicher. Noch am selben Tag, in Nachtausgabe, verkündet der Korrespondent der Vossischen Zeitung (Berlin): "Wieder ein Stück neue Zeit!"
Mirko KRÜGER
Abbildungsnachweis: Lufthansa-Archiv (3), Stadtarchiv Weimar / Repro: R. Dreßler
Bildunterschriften:
Aufstieg vor dem Aufstieg. Bereits Anfang der 20er Jahre wurden die fliegenden Kisten immer komfortabler.
Damit die Frau von Welt auch die Treppe sicher überwinden konnte, waren stets sogenannte "Luftboys" zur Stelle.
Foto links: Gut verschnürt. Druckfrische Zeitungen werden für den Jungfernflug verladen.
Mit einem Kranich-Symbol warb die Deutsche Luftreederei nach Ihrem Jungfernflug nach Weimar um Passagiere.
Foto unten: Glückliche Landung. Am 8. Juni 1911 wurde der Weimarer Flugplatz eingeweiht.